Eine Person liest eine spanische Tageszeitung

Von Überalterung bis Bevölkerungsexplosion - Bildung entscheidet über die Zukunft der Menschheit

01. Dezember 2016

Seit vielen Jahren ist bekannt, dass die Weltbevölkerung nur sehr ungleich wächst und die Herausforderungen demografischer Entwicklungen in Europa andere sind als jene in afrikanischen Entwicklungsländern. WU-Professor Wolfgang Lutz, Gründungsdirektor des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital (IIASA, VID/ÖAW, WU), untersuchte gemeinsam mit internationalen DemografInnen, welche Bevölkerungsentwicklungen in Zukunft zu erwarten sind und was geschehen muss, um ein friedliches Zusammenleben von bald neun Milliarden Menschen zu ermöglichen. Die Bedeutung der Bildung ist dabei weitaus größer als bisher angenommen. In Entwicklungsländern zeigt sich, dass die Bildung der Frauen eine Schlüsselvariable ist: Mehr Bildung befähigt sie, ihrem Kinderwunsch nach eigenen Vorstellungen nachzukommen, ihre Gesundheit verbessert sich und die Zahl der Kindersterblichkeit sinkt. Aber auch in Europa spielt Bildung die entscheidende Rolle.

Während in Europa die Bevölkerung kaum wächst, dafür aber stark altert, wächst sie in Afrika nach wie vor fast ungebremst. Derzeit lebt rund eine Milliarde Menschen auf dem zweitgrößten Kontinent der Erde -  gegen Ende des Jahrhunderts werden es zwischen zwei und vier Milliarden sein. „Wir sehen immer deutlicher, dass die Ressourcen auf unserem Planeten begrenzt sind und mehr Menschen nicht nur mehr Nahrung, mehr Energie, mehr Wasser etc. brauchen, sondern auch gleichzeitig mehr Umwelt zerstören, mehr Wälder roden, mehr Wasser verschmutzen und mehr zur Klimaerwärmung beitragen“, erklärt WU-Professor Wolfgang Lutz und ergänzt „gleichzeitig gibt es bei diesen Faktoren enorme Unterschiede zwischen den armen und den reichen Ländern. Die, die am wenigsten zum Klimawandel beitragen, werden voraussichtlich am meisten darunter leiden.“ Lutz arbeitet mit WissenschaftlerInnen weltweit an Lösungsansätzen für diese riesige Herausforderung der Zukunft. Dabei zeichnet sich ganz klar ab: Sowohl zur Stabilisierung von Geburten- und Sterberaten in Afrika als auch zur Sicherung der Sozialsysteme in Europa ist die zentrale Schlüsselkomponente Bildung.

Demografisches Großprojekt

Insgesamt drei verschiedene Zugangswege wählten WU-Professor Lutz und sein Team. Die Basis der Untersuchungen bildeten riesige Sammlungen an demografischen Daten aus aller Welt, die sowohl den nationalen Statistikämtern als auch großen repräsentativen Stichprobenuntersuchungen entstammen. Damit einher ging auch dann das Sammeln sämtlicher wissenschaftlicher Literatur weltweit zu den Entwicklungsprognosen der jeweiligen Länder und Regionen. Im Anschluss daran erfolgte eine weltweite Online-Befragung der internationalen ExpertInnen für Demografieforschung in fast allen Ländern der Welt, in der sie den Stand des Wissens zu den Faktoren Bevölkerung, Alter, Geschlecht, Bildung, Geburten- und Sterberate und ihren zukünftigen Entwicklungen darstellen sollten. Diese Daten wurden schließlich in alternative Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung in allen Ländern der Welt übersetzt.

Schritt 1: Die Bildung der Frau

Als mit Abstand wichtigster Faktor zur „Kontrolle“ der Geburten- und Sterberate zeigte sich ganz klar die Bildung der Frauen. Besser gebildete Frauen zeigten in allen Ländern der Welt eine niedrigere Kindersterblichkeit und leben selbst länger, weil sie besser wissen, was für die Gesundheit zu tun ist. Besser gebildete Frauen in Entwicklungsländern wünschten sich auch weniger Kinder, setzten sich mit ihrem niedrigeren Kinderwunsch besser gegen traditionelle Normen durch und hatten dann auch weniger Kinder. „Um Äthiopien als Beispiel zu nennen: Frauen, die nie in der Schule waren, bekommen dort im Durchschnitt sechs Kinder, Frauen, die die Mittelschule besucht haben nur zwei. Bildung befähigt sie, ihrem tatsächlichen Kinderwunsch zu entsprechen und die Zahl der Schwangerschaften bewusst selbst zu bestimmen. Es zeigte sich auch, dass die Bildung der Frauen wichtiger als das Haushaltseinkommen ist – ein Faktor an den die ÖkonomInnen primär denken. Anders ausgedrückt, unsere Studien bilden ab, dass der Inhalt des Kopfes wichtiger ist, als der Inhalt der Brieftasche“, so Lutz. Dieses Ergebnis hat weitreichende politische Konsequenzen, so zeigen sich die Folgen höherer Bildung auch im Gesundheitsbereich.

Schritt 2: Bessere Gesundheit

Diese Ergebnisse zeigen, dass dem Entwicklungsziel der universellen Schulbildung für alle jungen Frauen und Männer oberste Priorität in der nationalen und internationalen Entwicklung zu geben ist. „Durch Basisbildung und der eng damit zusammenhängenden Basisgesundheit werden Menschen in die Lage versetzt, sich selbst zu helfen. Diese Hilfe zur Selbsthilfe muss das Rezept für die Entwicklung heute sein“, erklärt Lutz und ergänzt: „Alle anderen zweifellos auch wichtigen Aspekte wie Wirtschaftswachstum und Nahrungssicherheit, sauberes Wasser und saubere Luft, Energie und auch effiziente Regierungsformen folgen dann in gewisser Weise daraus.“

Auch Europa braucht Bildung

Bildung ist nicht nur die zentrale Antwort auf das Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern, auch für Europa ist Bildung der Schlüsselfaktor, um der Überalterung der Gesellschaft entgegenzutreten. „Um soziale Sicherungssysteme in Europa aufrecht erhalten zu können, muss Bildung die Menschen so befähigen, dass die kleiner werdende Gruppe an Menschen im erwerbsfähigen Alter immer produktiver wird“, so Lutz. In den Studien wird deutlich, dass die Ausbreitung der Schulbildung, insbesondere der höheren Schulbildung, in engem Zusammenhang mit der Wirtschaftsentwicklung steht und sich zu einer Aufwärtsspirale entwickelt. „Höhere Bildung führt zu höherer Arbeitsmarktteilnahme", so Lutz, „Viele Menschen stecken ihren bescheidenen Wohlstand wieder in ihre mittlere bis höhere Bildung. All dies lässt Gesellschaften produktiver werden – so können weniger Menschen mehr erreichen. Ein dynamischer Entwicklungsprozess beginnt.“ Essenziell dabei ist das Verständnis dafür, dass zwischen der Einschulung möglichst vieler Kinder und dem späteren wirtschaftlichen Erfolg rund 20 Jahre vergehen, das heißt, dass der positive Effekt erst Jahre später sichtbar wird und sich in Zahlen niederschlägt. Ziel für Europa sollte es sein, mehr Menschen - vor allem auch solche mit Migrationshintergrund - in höhere Bildung zu bringen. In Kombination mit einer höheren Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt und einem höheren Pensionsalter zeigen beispielsweise die Prognosen in Österreich, dass auch in Zukunft ausreichend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen können.

Sämtliche Ergebnisse finden sich auch im Buch: Klingholz, Rainer/Lutz, Wolfgang (2016): Wer überlebt? Bildung entscheidet über die Zukunft der Menschheit“, erschienen im CAMPUS Verlag.

Zur Person

Wolfgang Lutz ist Gründungsdirektor des Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital, einer Forschungskooperation zwischen der WU, dem International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) sowie dem Vienna Institute of Demography der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (VID/ÖAW). Zudem leitet er an der WU die Abteilung Demographie am Institut für Sozialpolitik und das Forschungsinstitut Human Capital and Development. In seiner Forschung widmet sich Lutz den Methoden der Demografie, Bevölkerungsprognosen, Weltbevölkerungsentwicklung, der vergleichenden europäischen Demografie, der Entwicklung von Bildung und Humankapital sowie der Zukunft der Geburtenentwicklung. Viele seiner aktuellen Ergebnisse zur globalen Bevölkerungsentwicklung sind nachzulesen in LUTZ, BUTZ and KC (Hrsg.): World Population and Human Capital in the 21st Century (Oxford University Press 2014). Erst im April dieses Jahres wurde Wolfgang Lutz mit dem Mindel Sheps Award ausgezeichnet und zum Mitglied der US National Academy of Sciences gewählt. Im September erhielt er den hochrangigen EAPS Award und im November wurde ihm der Preis der Stadt Wien (Geisteswissenschaften) überreicht.

Pressekontakt:
Mag. Anna Maria Schwendinger
Presse-Referentin
Tel: + 43-1-31336-5478
E-Mail: anna.schwendinger@wu.ac.at
wu.ac.at  

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