wiss. Selbstverständnis
Das Institut für Gesellschaftswandel und Nachhaltigkeit (IGN) ist organisatorisch Teil des Departments für Sozioökonomie, in dem die Nachhaltigkeitsforschung mit mehreren Professuren ein fest etablierter Schwerpunkt der Forschung und Lehre ist. Es wird geleitet von Prof. Dr. Ingolfur Blühdorn (vorher University of Bath, GB), der zum September 2015 auf die neu eingerichtete Professur für Soziale Nachhaltigkeit an die WU berufen wurde.
Nachhaltigkeit aus sozialwissenschaftlicher Perspektive
Das IGN beschäftigt sich mit Fragen der Nachhaltigkeit aus soziologischer, politikwissenschaftlicher und gesellschaftstheoretischer Perspektive. Es versteht soziale Nachhaltigkeit ausdrücklich nicht als Gegenstück zu ökonomischer und ökologischer Nachhaltigkeit, sondern begreift Nachhaltigkeit in allen ihren Dimensionen als soziale Kategorie, d.h. als eine Idee und ein Projekt, das auf kulturell begründete und gesellschaftlich ausgehandelte Werte und Normen rekurriert, die sich im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung fortlaufend verändern.
Denn was als nachhaltig bezeichnet wird, wo gesellschaftliche Wahrnehmungen von Nicht-Nachhaltigkeit entstehen, in welchem Maße solche Wahrnehmungen Besorgnis erregen und welche Handlungsformen daraus entstehen, ist ganz wesentlich eine sozial- und kulturwissenschaftliche Frage. Selbst grundlegende Veränderungen in der biophysischen und sozialen Welt (z.B. Artenverlust, Ressourcenverbrauch, Klimaerwärmung, soziale Ungleichheit, Migration) lösen oftmals ganz andere gesellschaftliche Resonanz aus, als Ökologiebewegungen einerseits und die naturwissenschaftlich oder ökonomisch orientierte Nachhaltigkeitsforschung andererseits es erwartet hatten und fordern.
Im Zentrum des Interesses stehen für das IGN also jene Dimensionen der Nachhaltigkeitsdebatte, die tendenziell außer Acht gelassen werden, wo Nachhaltigkeit (a) im naturwissenschaftlichen Sinne in Begriffen von empirisch messbaren Stoff- oder Energieströmen beschrieben wird, (b) im technologisch-technokratischen Sinne als Effizienzinnovation, oder (c) im wirtschaftswissenschaftlichen Sinne in Begriffen von verschiedenen Kapitalformen. Zentral für die Forschung am IGN ist dementsprechend die Annahme, dass Fragen der Nachhaltigkeit und Nicht-Nachhaltigkeit sich letztlich weder in natur- oder wirtschaftswissenschaftliche Fragestellungen auflösen noch technokratisch entpolitisieren lassen. Aus dieser Perspektive befassen wir uns mit der (Nicht-)Nachhaltigkeit und (Un-)Haltbarkeit bestimmter Formen der ökonomischen und politischen Organisation und bestimmter Verständnisse von Freiheit, Emanzipation und Selbstbestimmung. Gesellschaftliche Konflikte, die sich aus dem Wettstreit konkurrierender Vorstellungen von Nachhaltigkeit und Forderungen nach gesellschaftlicher Transformation ergeben, sind ebenso Gegenstand unserer Arbeit wie Fragen der politischen Steuerung und Steuerbarkeit solcher Transformationen.
Anthropozän und planetarische Grenzen
Vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen hat dieser spezielle Forschungsansatz des IGN herausragende Bedeutung: In der einschlägigen Literatur ist von einer neuen erdgeschichtlichen Epoche, dem Anthropozän, die Rede, in der die traditionelle Unterscheidung zwischen einer biophysischen und einer sozialen Welt nicht mehr haltbar ist. Natur und Gesellschaft verschmelzen miteinander; und auch andere Dualismen, die traditionell das Denken bestimmt haben, zerfallen. Etablierte öko-politische Diagnosen und Strategien der umwelt-, klima- und nachhaltigkeitspolitischen Legitimation verlieren damit ihre scheinbar gesicherte Grundlage. In der Nachhaltigkeitsforschung sind sogenannte planetarische Grenzen, deren Überschreitung die Stabilität ökologischer Systeme sowie die Lebensgrundlagen der Menschheit gefährdet, zu einem wichtigen, vermeintlich objektiven Bezugspunkt der Klima- und Umweltpolitik geworden. Doch auch diese Grenzen bleiben letztlich eine unhintergehbar soziale und politische Kategorie; soziale Normen und Werte bleiben der Referenzpunkt. Denn welche Teile der Menschheit in welcher Umwelt und mit welcher Lebensqualität (über-)leben sollen, ist keine Frage der Naturwissenschaften. Entsprechend sind Fragen der richtigen Grenzziehung, Begrenzung und Grenzeinhaltung zentral geworden. Sie stehen im Mittelpunkt von Szenarien der sozial-ökologischen Transformation, die über den hergebrachten Glauben an neue Effizienztechnologien und die Hoffnung auf grünes Wachstum hinausgehen.
Doch zugleich befreien sich viele moderne Bürger:innen und Gesellschaften aus normativen Bindungen, die den Bezugspunkt älterer ökologischer, sozialer, politischer Bewegungen bildeten. Begriffe der ökologischen Vernunft, Mündigkeit oder Verantwortung sind inhaltlich leer geworden bzw. werden von verschiedenen Akteur:innen zu unterschiedlich ausgelegt, als dass sie dem Projekt einer sozial-ökologischen Transformation der Gesellschaft eine klare Richtung geben könnten. Zusätzlich verschärft die politische Absicherung wenigstens minimaler Wachstumsraten soziale Ungleichheiten und Spaltungen. Die Rezession der Demokratie und die autokratisch-autoritäre Wende werfen grundsätzliche Fragen auf hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Demokratie, Emanzipation, Wissenschaft und Staatlichkeit einerseits und dem Projekt einer sozial-ökologischen Transformation andererseits. Umso dringlicher sind daher folgende Fragen zu klären:
Forschungsfragen
o Wie verändern sich vor diesem Hintergrund die Inhalte der Nachhaltigkeitspolitik?
o Wie verschieben sich die gesellschaftliche Wahrnehmung und Bewertung von Phänomenen des Klimawandels und anderer ökologischer Veränderungen?
o Wie und warum verändern sich Vorstellungen von Freiheit, Selbstverwirklichung, Partizipation, Legitimation, Verantwortlichkeit etc.?
o Wie verändern sich gesellschaftliche Vorstellungen von Gleichheit, Gerechtigkeit und Demokratie?
o Welche Legitimationsnarrative werden konstruiert und sind (gemessen an welchen Kriterien) erfolgreich?
o Wie entwickeln sich die Fähigkeit und die Strategien, individuell und kollektiv mit der Verletzung umweltpolitischer Normen umzugehen?
o Wie werden die Implikationen der faktischen Postwachstumsgesellschaft bewältigt?
o Wie organisiert und verwaltet die moderne Gesellschaft die stetig wachsende soziale Ungleichheit und Exklusion?
o Welche gesellschaftlichen Konflikte entzünden sich an Projekten des sozial-ökologischen Strukturwandels?
o Welche Bedeutung hat in diesen Zusammenhängen die Digitalisierung moderner Gesellschaften?
o Wie interpretieren und vereinnahmen politische Akteur:innen Ideale wie Demokratie, Emanzipation oder kritisches Denken für Agenden, die bisher als reaktionär oder sogar rechtsextrem galten?
o Welche neuen Formen der politischen Artikulation, Mobilisierung und Organisation bilden sich heraus, wenn Grenzziehung, Begrenzung und Grenzeinhaltung zur entscheidenden gesellschaftlichen Herausforderung werden?
Jenseits öko-politischer Bekenntnisse
All dies sind für die politische Praxis äuβerst wichtige und vor allem ausdrücklich sozialwissenschaftliche Fragen. Ohne dabei ihre eigenen normativen Positionen zu verleugnen oder gar aufzugeben, untersuchen die Mitarbeiter:innen des IGN solche Fragen mit kritischer Distanz gegenüber den vielfältigen gesellschaftlichen Akteur:innen, die am Nachhaltigkeitsdiskurs beteiligt sind. Dazu gehören auch die Diskurse der kritischen Umweltsoziologie selbst. Dieser spezifische Ansatz ist nicht Zeichen normativer Indifferenz, sondern Ausdruck der doppelten Selbstverpflichtung der kritischen Soziologie auf die gesellschaftstheoretisch fundierte Gegenwartsanalyse einerseits und das Projekt der sozial-ökologischen Transformation moderner Gesellschaften andererseits. Die Hoffnung auf Transformation darf die Tiefenschärfe der Diagnose nicht beschränken, sondern muss vielmehr auf ihr gründen. Entsprechend geht es uns weniger um öko-politische Bekenntnisse als um ein klares Verständnis der Parameter, die faktische Transformationen bestimmen – und erhoffte blockieren. Diese vor allem interpretativ-diagnostische Perspektive ist für die Arbeit des IGN konstitutiv. Die Theorie moderner Gesellschaften und die Erforschung der gesellschaftstheoretischen Grundlagen nachhaltigkeitspolitischer Diskurse haben dabei einen besonderen Stellenwert. Sie schaffen die Basis für konzeptuell und eher empirisch orientierte Forschungsprojekte.
Forschungsschwerpunkte
In den vergangenen fünf Jahren hat sich die Arbeit des IGN innerhalb dieses Rahmens wesentlich auf drei enger bestimmte Forschungsschwerpunkte konzentriert:
➢ den Zusammenhang zwischen (a) Prozessen der gesellschaftlichen Modernisierung, (b) dem Wandel sozialer Werte und Aspirationen und (c) den normativen Grundlagen umwelt- oder nachhaltigkeitspolitischer Diskurse bzw. Politiken;
➢ den Wandel gesellschaftlicher Verständnisse von Demokratie (und ihrer konstitutiven Elemente) und die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Nachhaltigkeit, Demokratie und Staatlichkeit;
➢ die Untersuchung zivilgesellschaftlicher Initiativen und Experimente im Bereich des Nachhaltigkeitswandels, ihrer Selbstverständnisse und der Transformationskapazitäten, die ihnen in wissenschaftlichen Diskursen zugeschrieben werden.
Die Ergebnisse dieser Forschung sind in über 60 Publikationen, vorwiegend in internationalen, wissenschaftlichen Fachzeitschriften, veröffentlicht. In
zahllosen Vorträgen wurden sie wissenschaftlichen und auch nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeiten vorgestellt und in vielfältigen Diskussionsrunden kritisch zur Debatte gestellt.
Für die kommenden fünf Jahre sollen in folgenden Bereichen besondere Akzente gesetzt werden:
➢ Herausforderungen der Grenzziehung, Begrenzung und Grenzeinhaltung im Zeichen der faktischen Postwachstumsgesellschaft und planetarischer Grenzen;
➢ soziale Spaltung, Polarisierungen und neue politische Konfliktlinien im Kampf um die sozial-ökologische Transformation;
➢ Transformationsblockaden im demokratischen Staat und Möglichkeiten ihrer Auflösung.
Dabei bleiben die generelle Orientierung und der spezielle Forschungsansatz des IGN unverändert. Zu diesen Themen wird das Institut entsprechende Fachtagungen ausrichten und Forschungsworkshops abhalten.
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