Die Vollgenossenschaft

06. April 2023

Die meisten Menschen denken beim Begriff „Genossenschaft“ an Kreditgenossenschaften, Wohnbaugenossenschaften oder Einkaufs- und Absatzgenossenschaften. Diese Organisationen sind weithin bekannt und werden den sogenannten „Teilgenossenschaften“ zugeordnet. Weit weniger bekannt sind „Vollgenossenschaften“, was durchaus überraschend ist, wenn man sich ihre mitunter bedeutende Rolle in der Geschichte einiger Länder vor Augen führt. Auch zahlreiche „utopische Siedlungsprojekte“ der Vergangenheit waren ihrem Wesen nach „vollgenossenschaftlich“ organisiert. Wie sich diese Genossenschaften von den oben genannten und heute weit häufiger anzutreffenden „Teilgenossenschaften“ unterscheiden, welche (erfolgreiche) Beispiele für „Vollgenossenschaften“ es in der Vergangenheit gab und wo heute noch „Vollgenossenschaften“ anzutreffen sind – Antworten auf diese Fragen liefert dieser Blogbeitrag.

Lesezeit: 20 Minuten

Die weithin bekannten „Teilgenossenschaften“ fördern primär die wirtschaftliche Sphäre ihrer Mitglieder:

  • Kreditgenossenschaften besorgen insbesondere das Einlagen- und Kreditgeschäft

  • Wohnbaugenossenschaften schaffen leistbaren, qualitativ hochwertigen Wohnraum

  • Einkaufsgenossenschaften sorgen für günstigere Einkaufsbedingungen

  • Absatz- und Verwertungsgenossenschaften ermöglichen unter anderem die Veredelung von landwirtschaftlichen Produkten

Die Verbindungen der Mitglieder mit der Genossenschaft sind – selbst bei überdurchschnittlich engagierten Mitgliedern dieser Teilgenossenschaften – auf wenige Lebensbereiche begrenzt.

Demgegenüber erstrecken sich „Vollgenossenschaften“ (auch „vollintegrative Genossenschaften“, Hettlage 1987) über sämtliche Lebensbereiche ihrer Mitglieder. In diesem Sinn handelt es sich hierbei nicht um Kooperationen, die ausschließlich das ökonomische Fortkommen der Mitglieder fördern, sondern gewissermaßen um gemeinschaftliche, institutionalisierte Lebensmodelle, innerhalb derer die Mitglieder in höchstem Maße miteinander kooperieren. Dabei werden Arbeit und private Lebensbereiche gemeinschaftlich organisiert. Beispielsweise sind die gemeinsame Kinderbetreuung, Freizeitgestaltung, Ernährung und Kleidungs- und Geräteherstellung und -nutzung nicht ungewöhnlich für diese Art der Genossenschaft (Hettlage 1987, S.200). Vielfach spielte in historischen Vollgenossenschaften auch die Schutzwirkung der Gemeinschaft eine bedeutende Rolle für ihre Mitglieder. Dadurch entstehen Formen des Zusammenlebens, die – unabhängig davon, ob sie sich selbst als „Genossenschaften“ bezeichnen – genossenschaftliche Züge tragen.

Warum Vollgenossenschaft?

Allgemein formuliert haben Vollgenossenschaften das Ziel, ihren Mitgliedern einen organisationalen Rahmen zu bieten, innerhalb dessen sie ihre Bedürfnisse decken können, um für die institutionalisierte Gemeinschaft (und damit auch sich selbst) vorteilhafte Leistungen/Effekte zu erwirken. Mit ihrer Mitarbeit in unterschiedlichen Bereichen der Genossenschaft sind die Mitglieder alle unmittelbar an der Umsetzung dieses Ziels beteiligt und sie sind im Kollektiv imstande, Mehrwert für die Gemeinschaft zu stiften. "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.", gilt in diesem Sinne auch für Vollgenossenschaften. Vollgenossenschaften haben daher in der Terminologie des Genossenschaftswesens zugleich Merkmale einer Produktivgenossenschaft (die Mitglieder bringen ihre Arbeitsleitung in die Organisation ein und sind gleichzeitig ihre EigentümerInnen), einer Wohnbaugenossenschaft (die Mitglieder errichten für sich selbst jenen Wohnraum, den sie selbst nutzen), einer Einkaufsgenossenschaft (die Mitglieder beziehen alle in der Gemeinschaft nicht produzierten Güter über die Organisation) und einer Absatz- und Verwertungsgenossenschaft (die von der Gemeinschaft produzierten, aber in der Gemeinschaft nicht benötigten Güter werden von der Organisation verkauft).

Aus der umfangreichen gesellschaftlichen und sozialen Verantwortung, die die Vollgenossenschaft für ihre Mitglieder übernimmt, ergibt es sich, dass dieser Typ von Genossenschaft weitestgehend autark von der Außenwelt und der dort bestehenden Geld- und Marktlogik bestehen kann. Die Autarkie von Währungssystemen der sie umgebenden Umwelten führt in vielen Vollgenossenschaften zur Etablierung eigener Arten von Währungen – zum Teil auch von „Zeitwährungssystemen“ (d.h., gutgeschriebene Arbeitszeit für die geleistete Arbeit, unabhängig davon, in welcher Stelle die Zeit aufgewendet wurde). In ihrer reinsten Form steht jeglicher Besitz der Genossenschaft im Eigentum aller Mitglieder und privater Besitz ist ausgeschlossen. Hierdurch soll Gleichheit unter den Genossenschaftsmitgliedern geschaffen und Konkurrenzdenken jeglicher Natur vorgebeugt werden. In dieser Idealvorstellung benötigt es auch keine Währung als Tauschmittel, da ohnehin alle Mitglieder alle Güter und Dienstleistungen nutzen können, solange sie das Einverständnis der Genossenschaft haben. In Vollgenossenschaften ohne Individualbesitz ist jedoch ein ausgesprochen hohes Maß an Vertrauen und sozialer Kontrolle notwendig, weshalb solche Modelle nur solange funktionieren, solange sich alle Mitglieder an Entscheidungsprozessen beteiligen und sich den getroffenen (Sanktions-)Entscheidungen unterwerfen.

In vielen historischen Beispielen hat sich gezeigt, dass dies bei kleineren und jüngeren Genossenschaften besser und mit zunehmender Mitgliederzahl bzw. zunehmendem Alter der Genossenschaft immer schwerer gelingt. Hieraus erwachsen bei Vollgenossenschaften mit ausschließlichem Kollektivbesitz mitunter Konflikte: Einerseits ist eine größere Anzahl an Mitgliedern wünschenswert, um mehr Arbeiten in der Genossenschaft verrichten zu können und den (bspw. krankheits- oder altersbedingten) Ausfall von Mitgliedern besser kompensieren zu können. Andererseits steigen mit jedem Mitglied die Kosten der Kontrolle – die Organisation wird undurchsichtiger und es bilden sich – zumeist ungewünscht – Gruppen mit mitunter konkurrierenden Interessen heraus. Nicht selten scheitern Vollgenossenschaften schließlich daran, dass die Interessen der Mitglieder mit der Zeit zu weit auseinanderklaffen und die Genossenschaft früher oder später daran zerbricht.

Die Koordination der Ziele und die Entscheidungsfindung werden legitimiert durch die Mitbestimmung der Mitglieder, die demokratisch organisiert ist. Wie in den heute weithin bekannteren Ausprägungen der Teilgenossenschaften üblich, ist das zentrale Entscheidungsorgan der meisten Vollgenossenschaften ebenfalls eine Art Generalversammlung, die zumindest einmal im Jahr stattfindet. Für einzelne Funktionsbereiche von Vollgenossenschaften existieren aber durchaus auch Gremien, die öfter zusammentreten, um dort zum Beispiel operative Entscheidungen zu treffen. Typische operative Entscheidungen sind ...

  • die Produktion der Genossenschaft (wie viel wovon?)

  • das Spektrum der Produkte und Dienstleistungen, die in der Genossenschaft für die Mitglieder angeboten werden sollen

  • Entscheidungen, welche Gebäude (Wohnraum!) in welcher Qualität gebaut / gekauft und welche Sanierungsarbeiten durchgeführt werden sollen

  • Entscheidungen, welche Mittel die Genossenschaftsmitglieder und Gruppen in der Genossenschaft erhalten sollen

  • Entscheidungen, wer welche Aufgaben übernehmen soll und wer wofür Verantwortung trägt

Beispiele für Vollgenossenschaften

In diesem Abschnitt sollen nun einige – vom Wesen her als „Vollgenossenschaften“ identifizierbare – Gemeinschaften vorgestellt werden. Für Sie als Leser*in des Beitrags ist es dabei aufgrund der bisher geteilten Informationen zur Vollgenossenschaft vermutlich wenig verwunderlich, dass Gründungen dieser Art von Genossenschaften häufig auf sozialistische oder religiöse Strömungen und Grundvorstelllungen zurückgehen (Hettlage 1978, S.201).

Auf drei Quellen genossenschaftlicher Tradition, darunter auch die sozialistische, sind wir im „Geno schafft“-Beitrag von Februar 2023 bereits eingegangen. Der vorliegende Beitrag knüpft gewisser Maßen direkt daran an.

Schempp unterscheidet - abhängig von ihrer geographischen Ausbreitung - drei Typen von Vollgenossenschaften:

  • „Sektensiedlungen“ mit engem Wirkungskreis (zu denen bspw. sozialistische Siedlungsexperimente wie Robert Owens „New Harmony“ oder Fouriers Phalangen (siehe Beschreibung unten)) gezählt werden,

  • Siedlungen, die sich über größere Landschaftsräume erstrecken; bezeichnet als „Siedlungs-Kommunismus“ (wie der „Jesuiten-Staat“ in Paraguay und die „Kibbuzim-Bewegung“ in Israel (beide nachfolgend beschrieben)

  • und russische Kolchosen und chinesische Volkskommunen, die dem Staats-Kommunismus zuzuordnen sind, und auf die in diesem Beitrag nicht im Detail eingegangen werden soll (Schempp 1969 in Hettlage 1978, S.201).

Nachfolgend werden drei Beispiele von Vollgenossenschaften vorgestellt:

Der „Jesuiten-Staat“ in Paraguay (Jesuitenreduktionen)

„Jesuitenreduktionen“ sind ein Beispiel sozialistischer Theokratie und werden oft als eine (seltene) Form des „gutartigen Kolonialismus“ (englisch: „benign colonialism“) vorgebracht. Das Wort „Reduktion“ steht für das Zusammenziehen der ansonsten häufig verstreut als Jäger und Sammler lebenden indigenen Bevölkerung in festgelegte Gebiete, wo sie fortan im Rahmen der Vollgenossenschaft sesshaft wurden. Die Jesuitenreduktionen in Paraguay wurden 1609 gegründet, primär um die kolonialen Interessen der spanischen Krone gegenüber portugiesischen Kolonialist*innen und (Sklaven-)Händler*innen zu verteidigen. An dieser Stelle verkürzt dargestellt kann man festhalten, dass sich Spanien, das zur damaligen Zeit eine starke Rolle in der katholischen Kirche innehatte, mit Hilfe der Reduktionen erhoffte, der Expansion und Überschreitung vereinbarter Grenzen durch eben genannte Gruppen Einhalt zu gebieten. In ihrer Gestalt ähnelten die Reduktionen vielen Beispielen späterer Vollgenossenschaften, jedoch fällt ihre Existenz zeitlich vor die Gründung der ersten „richtigen“ Genossenschaften.

Für die Reduktionen zentral war die Idee, dass jenen Indigenen, die das Christentum als Glauben annahmen, Schutz vor Übergriffen westlicher Siedler, „weißer Banditen“ (Kriegbaum 2006, o.S.) und der Versklavung geboten werden sollte. Gemäß spanischem Recht wären getaufte Indigene in Kolonien ohnehin als vollgütige Bürger des Königreiches Spanien zu behandeln gewesen, jedoch wurde dieses Gesetz durch die Konquistadoren zumeist ignoriert. Um den Einwohner*innen Schutz bieten zu können, wurden ab dem Jahr 1640 indigene Mitglieder der Reduktionen zu Milizsoldaten ausgebildet, die sich für diese Aufgabe als äußerst fähig erwiesen.

Den Aufbau der Jesuitenreduktionen beschreibt Kriegbaum (2006, o.S.) wie folgt:

„Die Dörfer boten überall ein nahezu identisches Aussehen: in der Mitte befand sich die Kirche, drum herum die Patreswohnungen und die Vorratsräume. Um diesen Kern lagerten sich dann die Hütten der Indios. […] In der Theorie verwalteten sich die Siedlungen selbst, doch lief kaum ein Entscheidungsprozess ohne Zustimmung der Jesuiten.“

„Die Familien ernährten sich vom Ertrag der Äcker, die ihnen gehörten; darüber hinaus war ein jeder noch zur Arbeit auf den Gemeinschaftsfeldern verpflichtet, deren Ernte für Notzeiten zurückgehalten wurde. Das Richteramt lag bei den Patres; die schwerste Strafe bestand in der Ausweisung aus der Reduktion und in der Übergabe an die spanischen Behörden. Nach europäischen Maßstäben brachten es diese Indios weit im Zivilisationsprozess: sie erlernten nicht nur als ehemalige Nomaden die Landwirtschaft, sondern auch die verschiedensten Handwerksberufe. So befand sich die erste Buchdruckerei Amerikas in einer Reduktion.“

Zu ihrer Blütezeit waren weit über 100.000 Personen Mitglieder dutzender Reduktionen. Ihr großer Erfolg sollte sich schließlich als Ursache für ihren Untergang herausstellen. Die wachsende „Mitgliederzahl“, die Ausbildung dieser Mitglieder zu Milizangehörigen und ihre Autonomie von der Krone nährten Befürchtungen, dass sich die Jesuiten ihren eigenen Staat in Südamerika aufbauen würden (daraus resultiert die Bezeichnung „Jesuitenstaat“), um schließlich eine Rebellion gegen das spanische Regime zu starten.

Schließlich nahm die Entwicklung der hier beschriebenen Jesuitenreduktionen in den 50er und 60er Jahren des 18. Jahrhunderts ein jähes Ende: Zunächst widersetzten sich die Indigenen nach territorialen Veränderungen zwischen Spanien und Portugal einer etwaigen Herrschaft durch die Portugiesen – ein Widerstand der den Jesuiten angelastet wurde und schließlich zur Auflösung der Reduktionen im nunmehr portugiesischen Überseegebiet führte. 1767 wurden schließlich auch die verbliebenen Reduktionen auf spanischem Gebiet aufgelassen. Was von den Reduktionen blieb sind bis heute bestehende Siedlungen in Südamerika, die von den damaligen Siedlern aufrechterhalten und ausgebaut wurden, wie beispielsweise die Stadt Córdoba in Argentinien. Die durchaus bewegte Geschichte des Konfliktes zwischen Jesuiten und dem spanischen König wurde im Drama „Das heilige Experiment“ (1942) vom österreichischen Autor Fritz Hochwälder auch als Theaterstück aufbereitet.

Youtube-Video zum Thema “Jesuitenreduktionen”

Titel: “Das Erbe des heiligen Experimentes (Jesuiten Doku, Missionare Doku, Lateinamerika Jesuiten)”

Die Kibbuzim-Bewegung in Israel

„Kibbuz“ kann übersetzt werden mit „Versammlung“ (Feingold-Studnik, 2002). Es handelt sich um eine Art der Vollgenossenschaft, die in Israel im frühen 20. Jahrhundert entstand. Die erste Kibbuz-„Genossenschaft“ namens „Degania“ existiert nach wie vor und wurde von 12 Menschen im Jahr 1909 am südlichen Ufer des Sees Genezereth gegründet. So wie viele andere Kibbuze vergrößerte sich Degania sukzessive, bis schließlich eine stattliche Siedlung erwuchs. Viele weitere Kibbuze entstanden, taten es diesem ersten Kibbuz gleich und existieren trotz ihrer bewegten Geschichte vielfach noch heute, wenngleich einige der Gemeinschaften mittlerweile ihre sozialistischen Wurzeln abgelegt – und stattdessen eine marktwirtschaftliche Logik übernommen – haben.

Wesentliche Katalysatoren für die Entstehung und das rasche Wachstum vieler Kibbuze waren der zunehmende Hass und die Aggression, der sich Juden im frühen 20. Jahrhundert in Europa gegenübersahen. Viele von ihnen sahen sich dazu gezwungen auszuwandern und siedelten sich in Regionen des heutigen Israel an. Sie hatten nun die Möglichkeit, ihr Leben nach eigenen Wünschen in einer für sie neuen Umwelt zu gestalten. Vielfach handelte es sich bei den Siedler*innen um junge Menschen, die ihre gewonnene Freiheit nutzten, um ihre Idee eines erstrebenswerten Zusammenlebens, die zum Teil stark sozialistisch geprägt war, als Lebensmodell in die Realität umzusetzen. Im Zentrum der Kibbuzbewegung stand dementsprechend der Wunsch, gemeinsam zu wirtschaften, und die dafür notwendigen und erwirtschafteten Ressourcen und das Vermögen als Kollektiv zu besitzen, zu verteilen und zu nutzen. In den Kibbuzen der Anfangszeit gab es dementsprechend auch kein Privatvermögen.

Im Kibbuz wurde zudem mit klassischen westlichen Vorstellungen über die Struktur der Arbeit, der Familie und der Kindererziehung gebrochen, so beschreibt Feingold-Studnik (2002, S. XI) die Arbeitsorganisation im Kibbuz wie folgt: „Bis in die achtziger Jahre hatte die Kibbuz-Leitung Entscheidungsgewalt über die Art der Arbeit eines Mitglieds, das umgekehrt auf einen Arbeitsplatz, entsprechend seiner Wünsche und Fähigkeiten, Anspruch hatte; alle Kibbuz-Mitglieder erhielten den gleichen Lohn.“ Für die Kibbuzbewegung war und ist die Gleichstellung von Männern und Frauen zentral. Speziell die Realität vieler Frauen, die in der Ehe vorrangig für Haushalt und Kinder zuständig waren, sollte aufgehoben werden; Frauen übernahmen in der (landwirtschaftlichen) Gemeinschaft dieselben Aufgaben wie Männer. Um einer Ungleichbehandlung der Frauen in der Gemeinschaft vorzubeugen wurde und wird auch die Kindererziehung und -betreuung vorrangig von der Kibbuz-„Vollgenossenschaft“ übernommen: Und so gibt es Kinderbetreuer*innen, Kinderschlafsäle und getrennte Essenszeiten für Eltern und Kinder.

Trotz der jahrzehntelangen – durchaus positiven – Entwicklung vieler Kibbuze stoßen sie zunehmend an ihre Grenzen. Probleme können beispielsweise sein:

  • Aufgrund der Überalterung des Kibbuz kommt es zu reduzierter Arbeitsleistung bei gleichzeitig zunehmenden Kosten für die Betreuung der alternden Bevölkerung.

  • Da Mitglieder kein oder nur kaum Privatvermögen aufbauen können, kommt es vielfach zu Privatisierungsbestrebungen der Mitglieder.

  • Mit steigender Anzahl an Mitgliedern (Kinder sind zumeist aber nicht durch Geburt Mitglieder der Genossenschaft, sondern müssen erst in die Genossenschaft aufgenommen werden) stößt die Gemeinschaft aber an ihre Produktions- und Finanzierungsgrenzen.

  • Veränderte (Land-)Wirtschaftliche Strukturen verlangen Produktionsanpassungen

Nicht zuletzt aufgrund dieser Probleme nimmt der Anteil der Personen, die in Kibbuz-Gemeinschaften leben, ab. Für viele Menschen scheinen zumindest die radikalen sozialistischen Ideen des Kibbuz an Attraktivität verloren zu haben.

Als Organisation verändern sich viele Kibbuzbewegungen seit den 1980ern daher derart, dass sie die Gemeineigentümerschaft aufgeben, das Genossenschaftsvermögen unter den Mitgliedern aufteilen, und dann in einer an die gesellschaftliche Umwelt angepassten Weise als Gemeinschaft weiterarbeiten. Drei Viertel der Kibbuze wurden mittlerweile derart „privatisiert“. Der Rest agiert weiterhin als Kollektiv mit Gemeinschaftseigentum und stärker sozialistischer Prägung.

Vor allem im Arbeitsleben schlagen sich die Veränderungen stark nieder: Gatz (2000, S. 5, zitiert in Feingold-Studnik, 2002, S. XI) gibt an, dass bereits rund um die Jahrtausendwende 86% der Mitglieder von Kibbuz-Bewegungen selbst dafür verantwortlich waren, sich innerhalb des Kibbuz oder außerhalb Arbeit zu suchen und dass seitens des Kibbuz keine Garantie für Arbeit mehr gegeben werden konnte. Nicht selten ist es dementsprechend der Fall, dass Menschen außerhalb des Kibbuz arbeiten und das Gehalt zurück in die Gemeinschaft fließt. Ebenso werden Dienstleistungen, wie beispielsweise  Sportanlagen und Schulen (Feingold-Studnik, 2002, S. XI) auch vermehrt Nichtmitgliedern zugänglich gemacht, die dafür ein Entgelt zu entrichten haben.

Ihren aktuellen Problemen und Veränderungen zum Trotz stellt die Kibbuzbewegung eines der erfolgreichsten und langlebigsten Modelle für Vollgenossenschaften dar, die bisher umgesetzt wurden.

Youtube-Videos zum Thema „Kibbuz“:

Titel: “Israel: What’s left of the utopian ideal of the kibbutz?”
Titel: “The Kibbutz: Israel's Collective Utopia | History of Israel Explained | Unpacked”
Titel: “What Is A Kibbutz? - Apr. 19, 2018”
 

„Phalangen“ nach Charles Fouriers

Der Französische Philosoph, Sozialreformer und Gesellschaftstheoretiker Charles Fourier (1772-1837) schuf mit den sogenannten „Phalangen“ ein Modell einer Vollgenossenschaft, das im 19. Jahrhundert mehrmals aufgegriffen und versuchsweise umgesetzt wurde, jedoch zumeist nach wenigen Jahren – in einem Fall nach einigen Jahrzehnten – scheiterte. Vielfach muten die Überlegungen Fouriers in der heutigen Zeit überaus kühn – um nicht zu sagen utopisch – an, er selbst war der Ansicht, dass es sich bei seinen Überlegungen aber keinesfalls um ein unerreichbares Gesellschaftssystem handelt, sondern um „[…] eine Art ökonomisches Komplement, das durch seinen vorbildhaften Charakter weltweit Nachahmer finden würde.“ (Doll 2012, S.155).

Die Phalangen sind für Fourier „[…] eine neue Form des Zusammenlebens, das nur ökonomisch gesteuert wurde und daher mit jeder Regierungsform kompatibel wäre.“ (Fourier 1848, S.32 zitiert in Doll 2012, S. 152). Maßgeblich für das Zusammenleben sind die zwölf von Fourier beschriebenen Leidenschaften, die für Anziehung und Zusammenhalt im sozialen Gefüge der Genossenschaft führen sollen, um schließlich die Triebe der Menschen zu befriedigen. Diese Leidenschaften, die hier nicht alle im Detail beschrieben werden können, sind (Doll, S. 148 ff.):

  • die fünf Sinneswahrnehmungen (Hören, Sehen, Fühlen, Schmecken, Riechen),

  • die vier affektiven Triebe (Ehrgeiz, Freundschafts-, Liebes- und Familientrieb)

  • sowie die drei distributiven Triebe (Trieb nach Abwechslung, Übereinstimmung und Wettbewerb).

Speziell die drei distributiven Triebe spielen eine wichtige Rolle in Fouriers Überlegungen, da durch sie die notwendigen Kräfte in der Phalange entstehen, um deren Funktion, die von Selbstorganisation und Ausrichtung an den eigenen Lüsten ausgerichtet ist, zu gewährleisten.

Diesen drei distributiven Trieben wird in der Genossenschaft ganz bewusst Rechnung getragen:

  • Der Wunsch nach Abwechslung soll damit befriedigt werden, dass die einzelnen Tätigkeiten, die durch die Mitglieder der Phalange durchgeführt werden, nicht länger als 1,5 bis 2 Stunden dauern sollten, sodass täglich sieben bis acht verschiedene Tätigkeiten durchgeführt werden können (Fourier 1848, S.67 zitiert in Doll 2012, S. 149.).

  • Im Sinne des Wettbewerbs stehen die einzelnen Genossenschaftsmitglieder bzw. Arbeitsbereiche zudem in ständiger Konkurrenz. Dies soll die Mitglieder anspornen, ihre qualitativ beste Arbeitsleistung zu erbringen und in den einzelnen Bereichen möglichst effizient zusammenzuarbeiten. Der Wettbewerb und die Würdigung exzellenter Arbeit wird dabei u.a. durch „Distinktionsgewinne“ sichergestellt. Dabei handelt es sich um Auszeichnungen für einzelne Mitglieder der Vollgenossenschaft, die durch Abstimmungen in den Phalangen vergeben werden. Diese Auszeichnungen sollten es den Ausgezeichneten für eine bestimmte Zeitspanne ermöglichen, ein bestimmtes Resort in der Genossenschaft zu repräsentieren (Fourier 1848, S. 231 u. 326 in Doll 2012, S. 154 f.). Ähnliche Auszeichnungen kennen und kannten auch andere Vollgenossenschaften, wie bspw. die russischen Kolchosen, in denen die vorbildlichsten Arbeiter*innen ebenfalls finanzielle und immaterielle Auszeichnungen (z.B. Banner, Portraits, Titel) erhielten. Dem Wunsch nach Wettbewerb soll auch dadurch entsprochen werden, dass – anders als bspw. in vielen Kibbuzen – unterschiedliche Löhne für unterschiedliche Arbeiten bezahlt werden sollten und es dadurch ganz bewusst auch „reichere“ und „ärmere“ Mitglieder geben sollte. Dies würde sich in weiterer Folge z.B. in der Inanspruchnahme unterschiedlicher Wohnungstypen äußern.

  • Der Trieb nach Übereinstimmung stellt das ausgleichende Element zum Wettbewerb dar und beschreibt das Gefühl, wenn man sich mit Mitgliedern einer Gruppe im Einklang befindet (Fourier 1848, S. 153 u. 156f. in Doll 2012, S. 149).

Tatsächlich sind es vor allem die konzeptionellen Überlegungen der Phalenstère, die ob ihres Detaillierungsgrads gegenüber anderen Vollgenossenschaften herausstechen. So legt Fourier die optimale Anzahl an Mitgliedern mit exakt 1.620 Personen (die in 300 Haushalten unterschiedlicher sozialer Hintergründe zusammenleben, Angel, 2014) fest. Er kommt zu dem Schluss, dass die ganze Welt sich in Phalangen organisieren wird, wenn der Erfolg der ersten Phalangen offensichtlich wird. Seiner Rechnung nach würde dies weltweit zur Gründung von 2.985.984 dieser Vollgenossenschaften führen.

Beeindruckend auch der Detaillierungsgrad der Ausführungen zu Struktur und Aufbau der „Phalanstère“, jenem Ort, an dem die Phalangen untergebracht sein sollten (siehe unten). Für diese empfiehlt Fourier u.a.:

  • die Phalanstère nicht allzu weit horizontal in der Ebene auszubreiten, um so die Wege zwischen den einzelnen Bereichen möglichst kurz zu halten,

  • unterschiedliche Wohnungsgrößen mit unterschiedlichen Ausstattungsgraden, um den unterschiedlichen Einkommens- und Familienverhältnissen Rechnung zu tragen,

  • gemeinschaftliche Versammlungsräume, Speisesäle und Gästeräume,

  • Umzäunungen und das „Nach-innen-ausrichten“ von Gängen innerhalb der Phalenstère, um die Gemeinschaft möglichst abzuschotten,

  •  „geschlossene und ‚klimatisierte‘ Galeriestraße als Verbindung zwischen den Gebäuden“ (Doll, S. 159), um das Aufeinandertreffen der Bewohner*innen (Mitglieder der Genossenschaft) auf ihren Wegen geradezu zu erzwingen

Phalanstère Gesamtansicht

Für die Phalangen – wie auch sämtliche andere Vollgenossenschaften – maßgeblich ist das hohe Maß an Selbstorganisation, das in den Ausführungen Fouriers aber noch stärker in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt, als dies bei den anderen hier beschriebenen Beispielen der Fall ist. Fourier beschreibt den Umstand, dass niemand einen Anreiz zur Nicht-Kooperation oder zum Betrügen habe, wenn er/sie von rechtschaffendem Handeln mehr Profit erwarten kann, als dies bei Fehlverhalten der Fall sei. Dadurch, dass allen Menschen der Phalange ein Teil der Genossenschaft gehört, sie darüber hinaus ihren Interessen nachgehen und ihre Triebe ausleben können, führe rechtschaffendes Handeln stets zu besseren Ergebnissen für den Einzelnen als unrechtmäßiges Verhalten. Für den Fall, dass es dennoch zu Fehlverhalten kommen sollte, werden Strafen vorgeschlagen. Diese sollten vor allem den sozialen Status der Personen einschränken (bspw. das „Entfernen von Wappen über Einfahrtstoren“, Fourier 1966, S. 176 in Doll 2012, S. 154).

Wie erwähnt, geht Fourier davon aus, dass sich die ganze Welt in Phalangen organisieren wird:

„Wenn sie im Wohnsitz eines Phalanstères (das ist der Name, den ich jener Vereinigung gebe[...]) sehen werden, [...] dass man dort zu einem Drittel des Preises dreimal so gut lebt und sich auch noch die Zubereitung und die Vorratswirtschaft erspart, wenn sie außerdem sehen werden, dass man [...] nicht betrogen wird und dass das Volk, [außerhalb der Phalanstères, Anm.] verschlagen und ungehobelt, in den [Phalanstères, Anm.] vor Wahrheitsliebe und Höflichkeit glänzt, wenn sie das alles gesehen haben, [s]ie werden [...] sich zum Phalanstère [...] zusammenschließen und in deren Gebäuden wohnen wollen.“ (Fourier 1808, S.43)

Wie anhand der Beispiele ersichtlich, greifen Vollgenossenschaften weit stärker in die persönliche Sphäre ihrer Mitglieder ein, als dies bei Teilgenossenschaften der Fall ist. Wenngleich die utopischen Vorstellungen vollgenossenschaftlicher Lebensmodelle mitunter auf den ersten Blick erstrebenswert klingen, so stellte sich in vielen Beispielen der Vergangenheit Ernüchterungen ein, weil die Anforderungen an die Selbstorganisation der Gruppe oft nur temporär erfüllt werden konnten.

Youtube-Video zum Thema „Phalange“:

Titel: “Le familistère de Godin - Région Picardie - Le Monument Préféré des Français”

Autoren: Gregor Rabong & Anselm Balk

Bei Anmerkungen, weiterführenden Informationen oder Anfragen zu einer Zusammenarbeit wenden Sie sich bitte an gregor.rabong@wu.ac.at oder ricc@wu.ac.at.

Literatur

Angel, Jessica Flore (2014), Reflexion on Fourier’s Phalanstery. URL: http://jessica-f-angel.com/phalanstere, abgerufen am 07.12.2022.

Doll, Martin (2012), Zwanglosigkeit als Norm: Charles Fouriers politische Operationalisierung der Leidenschaften. In: Gruber, Malte-Christian & Häußler, Stefan (Hrsg.), Normen der Empathie, Berlin: trafo Verlagsgruppe, pp. 154-164.

Feingold-Studnik, Shoshana (2002), Der Kibbuz im Wandel - Wirtschaftliche und politische Grundlagen. Wiesbaden: Deutscher Universitätsverlag.

Fourier, Charles (1808), Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen, Theodor W. Adorno (Hrsg. der deutschen Ausgabe).

Hettlage, Robert (1987), Genossenschaftstheorie und Partizipationsdiskussion.

Kriegbaum, Bernhard (2006), Die Jesuitenreduktionen (1609-1767), Vortrag beim Dies academicus der Theologischen Fakultät zum Ignatianischen Jahr am 29. März 2006, URL: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/637.html#11, abgerufen am 07.12.2022.

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