Sozialgenossenschaften

06. März 2020

Genossenschaften können im Hinblick auf gesellschaftlich relevante Problemstellungen innovative Lösungsansätze anbieten. Wie Sozialgenossenschaften beispielsweise in den Bereichen Kinderbetreuung und Pflege helfen können, erfahren Sie in diesem Beitrag.

Lesezeit: 5 Minuten

Der österreichische Sozialstaat sieht sich, wie viele seiner europäischen „Artgenossen“, mit einer Vielzahl an Herausforderungen konfrontiert. Manchmal ist auch vom „Sozialstaat in der Krise“ zu hören bzw. zu lesen (vgl. Butterwegge 2018; Kaufmann 2019; Müller 2010). Alternde Bevölkerung, die Bereitstellung von flächendeckender Kinderbetreuung, Reformbedarf im Gesundheitswesen und, ganz allgemein, die zukünftige Finanzierung sozialstaatlicher Aufgaben seien nur einige exemplarisch angeführte Beispiele.

Wie können nun aber Genossenschaften bei der Bewältigung dieser Herausforderungen helfen? Und was sind Sozialgenossenschaften eigentlich?

Begriffserklärung „Sozialgenossenschaft“

Eine einheitliche Definition des Begriffs „Sozialgenossenschaften“ gibt es nicht. Was die verschiedenen Definitionen in der wissenschaftlichen Literatur jedoch gemeinsam haben, ist die Auffassung, dass Sozialgenossenschaften nicht nur an der Förderung ihrer eigenen Mitglieder interessiert sind, sondern auch Interessen der Allgemeinheit verfolgen. So schreiben Theuvsen u. a.: „Sozialgenossenschaften zeichnen sich durch die freiwillige Selbstbindung an eine explizite soziale Zielsetzung aus, die gleichzeitig im öffentlichen Interesse ist“ (2017: 463). Dem kann hinzugefügt werden, dass Sozialgenossenschaften ihre unternehmerischen Tätigkeiten oftmals in jenen Dienstleistungsbereichen ansiedeln, welche ansonsten von der öffentlichen Hand durch Steuergelder finanziert werden müssten (Kiesswetter 2015: 9).

Einige Autor/inn/en identifizieren drei Typen von Sozialgenossenschaften (vgl. Bayrisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales o. J.; Flieger 2003;Theuvsen u. a. 2017):

  • Sozialgenossenschaften Betroffener
    Ziel hierbei ist Selbsthilfe und –organisation durch den Zusammenschluss unmittelbar Betroffener. Ein gemeinsames soziales Problem soll gemeinsam bewältigt werden.

  • Solidarische Sozialgenossenschaften
    Hier liegt das Augenmerk auf der Förderung Dritter. Es schließen sich also nicht unmittelbar Betroffene zusammen. Diese Form basiert stark auf ehrenamtlichem Engagement.

  • Professionelle Sozialgenossenschaften
    Diese sind vor allem im Pflege- und Gesundheitsbereich zu finden. In diesem Fall betreiben Angestellte dieser Branche quasi eine Produktivgenossenschaft für den Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes.

Nachfolgend sollen zwei Sozialgenossenschaften als Beispiele vorgestellt werden.

Sozialgenossenschaften in der Pflege - SAPV Südfranken eG

Die Abkürzung SAPV steht für „spezialisierte ambulante Palliativversorgung“. Damit nimmt sich diese Genossenschaft seit Anfang 2018 einem besonders anspruchsvollen Pflegebereich an. Sie versorgt Menschen, die an einer nicht heilbaren und fortgeschrittenen Erkrankung leiden – und das rund um die Uhr. Die 24-Stunden-Rufbereitschaft gibt Patient/inn/en und Angehörigen Sicherheit, auch Krankenhauseinweisungen können hiermit umgangen werden (nordbayern.de 2018). Dies dient dem erklärten Ziel, ein menschenwürdiges Leben bis zum Schluss in einer vertrauten Umgebung zu ermöglichen, wo sich die meisten Patient/inn/en am wohlsten fühlen, also zuhause oder im Senioren- oder Pflegeheim (SAPV Südfranken eG o. J.). Die pflegerische Leiterin Ulrike Haarmann hält hierbei fest, dass die SAPV sich nicht in Konkurrenz zum bereits versorgenden Pflegedienst oder dem/der versorgenden Hausarzt/-ärztin tritt. Vielmehr handelt es sich um eine zusätzliche Unterstützung, auch mit einem Hospizverein wird kooperiert.

Die genossenschaftliche Organisation unterstützt die Erfüllung dieser überaus wichtigen Aufgaben durch ihre Unkompliziertheit. So war anfangs vor allem der geringe Gründungsaufwand ein großer Pluspunkt. Für den laufenden Betrieb „ […] ist es hilfreich, dass die Leute arbeiten können und die Bürokratie nicht so im Mittelpunkt steht“ hielt Vorstand Werner Rupp im Gespräch mit dem Genossenschaftsverband Bayern (GVB 2018: o. S.) fest. Weiters übernimmt die Genossenschaft Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Damit soll sichergestellt werden, dass die Genossenschaft sowohl bei niedergelassenen Ärzt/inn/en als auch in der Bevölkerung bekannt ist, um möglichst vielen Patient/inn/en eine ambulante palliative Versorgung zu ermöglichen (ibidem).

Sozialgenossenschaften in der Kinderbetreuung - montesori.coop

Sozialgenossenschaften in der Kinder- und Jugendlichen-Betreuung sind in unserem italienischen Nachbarland recht häufig. Vor allem in Südtirol findet man hierzu gleich mehrere Angebote. In Südtirol ist beispielsweise die Sozialgenossenschaft „montessori.coop“ angesiedelt, zu der sich eine Gruppe von Eltern zusammengeschlossen hat, um Kindern „Spielraum in der Natur und für Ihren selbstbestimmten Rhythmus geben“ (montessori.coop o. J.).

Die montessori.coop bietet Angebote für alle Altersgruppen: Kleinkinder, Kinder und schließlich Jugendliche bis ins Alter von 16 Jahren. Allerdings wird die Montessori-Mittelschule vom Schulamt nicht anerkannt. Daher müssen Schüler/innen als sogenannten Privatisten eine Abschlussprüfung ablegen. Auf diesem Weg werden die Jugendlichen von einer Lehrperson begleitet. Um berufstätigen Eltern das Vereinbaren von Beruf und Familie zu erleichtern, wird auch Kinderbetreuung in der Ferienzeit angeboten. Für die Eltern selbst werden verschiedene Bildungs- und Informationsveranstaltungen in den Bereichen Natur, Beziehung und Erziehung organisiert (ibidem).

Das Angebot einer schulischen Ausbildung durch eine Sozialgenossenschaft ist eher der Ausnahmefall als die Regel. Meist steht die Betreuung von Kleinkindern oder am schulfreien Nachmittag im Fokus (vgl. z.B. Die Kinderfreunde Südtirol o. J.; Paideias o. J.).

Ausblick

Im Freistaat Bayern wurde Mitte 2012 die „Zukunftsinitiative Sozialgenossenschaften“ gestartet. Im Rahmen dessen können bis zu 30.000 Euro Anschubfinanzierung pro modellhafter Genossenschaft gewährt werden (Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales o. J.). Das kann als Indiz dafür gewertet werden, dass Sozialgenossenschaften in Bayern in Zukunft eine größere Rolle spielen könnten. Folgendes Statement der bayrischen Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales verstärkt diesen Eindruck:

„Mit der ‚Zukunftsinitiative Sozialgenossenschaften’ wollen wir den Bürgerinnen und Bürgern in Bayern die Chancen, Möglichkeiten und Vorteile von Genossenschaften im sozialen Bereich aufzeigen. Wir wollen die Menschen bei der Gründung von Sozialgenossenschaften unterstützen und ihnen über die typischen Anlaufschwierigkeiten hinweg helfen. Denn wir sind überzeugt: Sozialgenossenschaften sind eine wunderbare Mischung aus Eigeninitiative, Solidarität und Zusammenhalt.“ (Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales o. J.: o. S.)

Wie im letztmonatigen „Geno schafft“-Beitrag berichtet, spricht das türkis-grüne Regierungsprogramm dafür, dass Genossenschaften auch in Österreich vermehrt im Sozialbereich etabliert werden könnten. Auf diese Rolle und auf die Stärken der Genossenschaft bei der Bewältigung zahlreicher sozialer Herausforderungen, verweist das Regierungsprogramm gleich an mehreren Stellen. Man darf die Entwicklungen rund um Sozialgenossenschaften also auch in Österreich mit Spannung weiterverfolgen.

Bei Anmerkungen, weiterführenden Informationen zum Thema oder Anfragen zu einer Zusammenarbeit wenden Sie sich bitte an jana.stefan@wu.ac.at, gregor.rabong@wu.ac.at oder ricc@wu.ac.at.

Autor/inn/en: Jana Stefan

Literaturverzeichnis

Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales. o. J. „Sozialgenossenschaften - Zukunftsinitiative Sozialgenossenschaften“. Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales. Zugegriffen 5. März 2020. www.sozialgenossenschaften.bayern.de/beispiele/zukunftsinitiative/index.php.

Bayrisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales. o. J. „Sozialgenossenschaften - Typen von Sozialgenossenschaften“. Zugegriffen 2. März 2020. www.sozialgenossenschaften.bayern.de/wasist/arten/index.php.

Butterwegge, Christoph. 2018. Krise und Zukunft des Sozialstaates. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. doi.org/10.1007/978-3-658-22105-8.

Die Kinderfreunde Südtirol. o. J. „Die Kinderfreunde Südtirol“. Die Kinderfreunde Südtirol. Zugegriffen 5. März 2020. www.kinderfreunde.it.

GVB. 2018. „SAPV Südfranken eG - Mittelfränkische Genossenschaft bietet ambulante Palliativversorgung“. GVB - Genossenschaftsverband Bayern. 12. Januar 2018. www.gv-bayern.de/standard/artikel/sapv-suedfranken-eg-9412.

Kaufmann, Franz-Xaver. 2019. Bevölkerung – Familie – Sozialstaat: Kontexte und sozialwissenschaftliche Grundlagen von Familienpolitik – Herausgegeben von Tilman Mayer. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. doi.org/10.1007/978-3-658-23171-2.

Kiesswetter, Oscar. 2015. „Italienische Sozialgenossenschaften als Job-Motor für benachteiligte Arbeitnehmende“. gehalten auf der Europäische Sozialfirmenkonferenz, Olten, September 10.

montessori.coop. o. J. „Über uns“. montessori.coop. Zugegriffen 5. März 2020. www.montessori.coop/ueber-uns/.

Müller, B. 2010. „Sozialstaat in der Krise - Das Geld reicht für alle“. Süddeutsche Zeitung. 17. Mai 2010. www.sueddeutsche.de/kultur/sozialstaat-in-der-krise-das-geld-reicht-fuer-alle-1.145074.

nordbayern.de. 2018. „Palliativversorgung auf dem Land sichern“. Nordbayern. 15. Mai 2018. www.nordbayern.de/region/treuchtlingen/palliativversorgung-auf-dem-land-sichern-1.7588434.

Paideias. o. J. „Paideias“. Paideias. Zugegriffen 5. März 2020. www.paideias.it/de/.

SAPV Südfranken eG. o. J. „SAPV Südfranken | SAPV Südfranken, Versorgung“. SAPV Südfranken. Zugegriffen 5. März 2020. sapv-suedfranken.de/versorgung/.

Theuvsen, Ludwig, René Andeßner, Markus Gmür, und Dorothea Greiling, Hrsg. 2017. Nonprofit-Organisationen und Nachhaltigkeit. Gabler research. NPO-Management. Wiesbaden: Springer Gabler.

Weiterführende Links

https://www.kinderfreunde.it/

https://www.paideias.it/de/wer-sind-wir

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