Genossenschaftliche Weltreise: Brasilien

06. November 2020

Der zweite Teil unserer Beitragsserie befasst sich mit der genossenschaftlichen Tradition im mengenmäßig fünftgrößten Land der Welt: Brasilien - einem Land mit mehr als doppelt so vielen Genossenschaftsmitgliedern wie Aktionär/inn/en (Harvey, 2017).

4-5 Minuten

Der hohe Anteil an Genossenschaftsmitgliedern sowie die Mentalität und Wertewelt der brasilianischen Einwohner/innen, die mit genossenschaftlichen Werten wie Kooperationsbereitschaft Zusammenhalt, Selbsthilfe und Offenheit weitgehend übereinstimmen, führen dazu, dass Brasilien mitunter als das „genossenschaftlichste“ Land weltweit gilt (Harvey, 2017). Ein interessanter Unterschied zu Österreich und anderen Ländern in Europa ist, dass eine Genossenschaft in Brasilien zumindest 20 Mitglieder haben muss. Zum Vergleich: In Österreich liegt die Mindestmitgliederanzahl bei zwei (Individuen oder juristischen Personen), in Deutschland bei drei  (GenG Deutschland, §4) und in der Schweiz bei sieben (Schweizer OR, Art. 831).

Drei bedeutende Arten von Genossenschaften in Brasilien sind Kreditgenossenschaften, die den Traditionen von Wilhelm Friedrich Raiffeisen folgen und die in nahezu 10 Prozent der brasilianischen Gemeinden die einzigen Finanzinstitute sind (Dias, 2018), Agrargenossenschaften sowie Genossenschaften des Gesundheitswesens.

Aber alles der Reihe nach!

Kreditgenossenschaften

2019 waren 989 der 6.887 registrierten Genossenschaften Kreditgenossenschaften, des Weiteren sind in etwa 15% aller in einer Genossenschaft angestellten Personen in einer Kreditgenossenschaft beschäftigt (Organization of Brazilian Cooperatives, 218, zitiert in Dias & Teles, 2019). Abgesehen von der Wichtigkeit dieses Sektors für das brasilianische Genossenschaftswesen sind die Kreditinstitute auch für die Versorgung der Zivilgesellschaft von großer Bedeutung: in 10% aller Bezirke sind Kreditgenossenschaften die einzigen Finanzinstitute (OCB, o. J.), da sich Kleinstädte und Dörfer aus Sicht konventioneller Banken oft nicht rentieren.

Im südlichen Teil des Landes hat sich eine spezielle Form der Kreditgenossenschaft herausgebildet, welche es sich zu Aufgabe gemacht hat, die Landwirt/inn/e/n in der Region zu unterstützen – die „Confederação Cresol“ (im Folgenden Cresol genannt). Nach der Gründung 1995 hat sich der Aufgabenbereich jedoch recht schnell erweitert, heute steht nicht mehr nur die finanzielle Absicherung der Kleinbauern und -bäuerinnen auf der Agenda: neben Leadershiptrainings für direkt in/mit der Genossenschaft Involvierte werden der Bevölkerung im ländlichen Raum  auch umfassenden Bildungsangebote zugänglich gemacht, in welchen u.a. auch Themen wie „Gender und Generation“ behandelt werden (Dias et al., 2019).

Agrargenossenschaften

Auch im Agrarsektor hat sich das genossenschaftliche Modell bewährt – 1.618 Genossenschaften sind diesem Sektor zuzuordnen, welche beinahe 200.000 Angestellte beschäftigen (OCB zitiert in Dias & Teles, 2018).

Cotribá

Die älteste landwirtschaftliche Genossenschaft wurde bereits 1911 gegründet und trug den klingenden Namen: „Genossenschaft General Osório“. Zwei Dinge könnten zu diesem Sprachen-Mix beigetragen haben: erstens sollte die Genossenschaft dem deutschen Modell nach Raiffeisen folgen; zweitens wurde die Genossenschaft im südlichen Teil des Landes gegründet, in welchem sich viele deutsche Einwanderer niederließen (Austria-Forum, o. J.). Mittlerweile wurde die Genossenschaft jedoch zu „Cotribá“ umbenannt.

Seit ihrer Gründung hat die Cotribá die Werte des Genossenschaftswesens als Grundlage beibehalten und sich auf das Gemeinwohl und die Entwicklung nicht nur der Mitglieder, sondern auch der Gemeinschaft, in die sie sich einfügt, konzentriert. Die Genossenschaft General Osório bot der Gemeinde Grundnahrungsmittel an und versorgte sie mit Artikeln wie Stoffen und Gewürzen, zudem standen An- und Verkauf von überschüssigen Waren sowie die Verarbeitung und der Handel von landwirtschaftlichen Produkten im Mittelpunkt. Hundert Jahre nach der Gründung beschäftigt die Genossenschaft 9.000 Angestellte, kooperiert mit Technologiepartnern, um die Produktivität der Ackerflächen zu erhöhen und verfügt sogar über vier eigene Tankstellen (Dias et al., 2018; Cotribá, o. J.).

Aurora Alimentos

1969 schlossen sich acht kleinere Agrarkooperativen zusammen, um ihre Produktion nach Regionen zu organisieren. Dieser Zusammenschluss markierte den Startschuss für die Industrialisierung der Produktion und rasantes Wachstum der Aurora: mit einem Bruttoumsatz von rund 2,5 Mrd. US-Dollar im Jahr 2016 ist sie heute die größte landwirtschaftliche Genossenschaft Brasiliens. Doch auch hier geht der Nutzen der Genossenschaft über reine wirtschaftliche Profitabilität hinaus; so wirkte sie beispielsweise bei der Elektrifizierung und der Installation von sanitären Einrichtungen in ländlichen Regionen maßgeblich mit (Askew, o. J.).

Gesundheitswesen

In Brasilien findet man auch das größte Netzwerk medizinischer Kooperativen der Welt: Zusammen mit 22 anderen Ärzten gründete Dr. Edmundo Castilho, ein idealistischer Gynäkologe, 1967 die União dos Médicos de Santos (Unimed Santos), welche eine Alternative zu dem zunehmend durch Kommodifizierung charakterisierten Gesundheitssystem darstellen sollte. Heute ist „Unimed“ der größte private Krankenhausbetreiber des Landes, der sich der sozialen Verantwortung verpflichtet fühlt und auf die Bedürfnisse aller Bevölkerungsschichten eingeht (Ranicki, o. J.). Das Unimed System sit in 84% des nationalen Territoriums präsent und umfasst etwa 345 medizinische Genossenschaften sowie mehr als 116.000 Genossenschaftsärzte (Unimed, o. J.). Damit versorgt man 19 Millionen Patientinnen und Patienten, was in etwa 10% der Bevölkerung Brasiliens entspricht.

Genossenschaften spielen im Land des Zuckerhuts eine große Rolle. Vor allem in den hier präsentierten Sektoren sind die genossenschaftlich organisierten Unternehmen mitunter Vorreiter und sorgen beispielsweise dafür, dass die Versorgungssicherheit auch in den weniger dicht besiedelten Gebieten des Landes gegeben ist.

Bei Anmerkungen, weiterführenden Informationen oder Anfragen zu einer Zusammenarbeit wenden Sie sich bitte an jana.stefan@wu.ac.at, gregor.rabong@wu.ac.at oder ricc@wu.ac.at.

Autor/inn/en: Jana Stefan und Gregor Rabong

Literaturverzeichnis

Askew, K. (o. J.). Coopercentral Aurora ensures families’ welfare. Stories.coop. Abgerufen 6. November 2020, von stories.coop/stories/coopercentral-aurora-ensures-families-welfare/.

Austria-Forum. (o. J.). Deutschbrasilianer. AustriaWiki im Austria-Forum. Abgerufen 6. November 2020, von austria-forum.org/af/AustriaWiki/Deutschbrasilianer.

Cotribá. (o. J.). Institucional. Cotribá. Abgerufen 6. November 2020, von www.cotriba.com.br/institucional/.

Dias, M., Alambert Rodrigues, M. R. (2018). Credit Cooperatives in Brazil. International Journal of Science and Research, 7(10), 598-603.

Dias, M. de O., Krein, J., Streh, E., & Vilhena, J. B. (2018). Agriculture Cooperatives in Brazil: Cotribá Case. International Journal of Management, Technology And Engineering, 8(12), 2100–2110.

Dias, M. de O., Silva, C. A., & Lund, M. (2019). Brazilian Credit Cooperatives: Cresol Confederation Case. IOSR Journal of Business and Management, 21(5), 11–19.

Dias, M. de O., & Teles, A. (2018). Agriculture Cooperatives in Brazil and The Importance for The Economic Development. International Journal of Business Research and Management, 9(2), 72–81.

Dias, M. de O., & Teles, A. (2019). A Comprehensive Overview of Brazilian Legislation on Credit Cooperatives. Global Journal of Politics and Law Research, 7(4), 1–12.

GenG Deutschland (Genossenschaftsgesetz Deutschland) (aktuelle Fassung), §4, abgerufen am 05.11.2020 von https://dejure.org/gesetze/GenG/4.html.

Harvey, R. (2017): Which are the world’s most co-operatively minded countries? URL: https://www.thenews.coop/119989/topic/development/worlds-co-operatively-minded-countries/ (abgerufen am 03.11.2020).

Organization of Brazilian Cooperatives. (o. J.). Figures of the Cooperative System. Sistema OCB. Abgerufen 6. November 2020, von www.ocb.org.br/en/en-our-figures.html.

Ranicki, C. (o. J.). 18 Million Lives. Stories.coop. Abgerufen 6. November 2020, von stories.coop/stories/18-million-lives/ .

Schweizer OR (Schweizer Obligationenrecht) (aktuelle Fassung), Art. 831,abgerufen am 05.11.2020 von https://gesetzestexte.help.ch/or/artikel.cfm?key=1173&art=Die_Genossenschaft.

Unimed. (o. J.). Sistema Unimed—Cooperativismo. Unimed. Abgerufen 6. November 2020, von www.unimed.coop.br/home/sistema-unimed/cooperativismo.

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